Der Düsseldorfer SPD-Politiker Andreas Rimkus ist bei der Bundestagswahl 2017 in der Wahlnacht als letzter Abgeordneter in den Deutschen Bundestag eingezogen. Der Journalist Henning Sußebach hat ihn in Berlin eine Woche lang begleitet und hat seine Eindrücke und Beobachtungen über die Arbeit des Düsseldorfer Abgeordneten in seinem Artikel „Abgeordneter Nummer 709“ in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ veröffentlicht. Wir veröffentlichen den Aritkel hier mit freundlicher Genehmigung der ZEIT sowie von Frau Monika Keiler (Fotos).
Ansicht Artikel in der abgedruckten Printfassung als PDF [Abgeordneter Nr. 709 – Artikel „Die Zeit“]
„Abgeordneter Nummer 709“ Zeitung DIE ZEIT * 12.03.2020
Er kam als letzter Nachnominierter ins Parlament. Was macht dieser Hinterbänkler eigentlich den ganzen Tag?
VON HENNING SUSSEBACH (TEXT) UND MONIKA KEILER (FOTOS)
Wenn man die Arbeitswoche des Abgeordneten Rimkus von ihrem Ende her erzählt, nur beschreibt, was sich an jenem Freitagmittag in Berlin zuträgt, dann sieht es zunächst so aus, als lasse es sich jemand richtig gut gehen.
Es ist 14 Uhr, da verlässt ein wuchtiger Kerl sein Büro im Regierungsviertel, Wilhelmstraße 65. Ein Aufzug trägt ihn aus dem vierten Stock hinab ins Erdgeschoss, dort wünscht der Mann den Pförtnern in rheinischem Singsang ein »schönet Wochenende« und tritt in einen Innenhof, wo eine schwarze Limousine wartet. Ihr Kennzeichen beginnt mit der Buchstabenfolge B-FD, Fahrdienst des Deutschen Bundestages. Der Mann sinkt auf den Beifahrersitz, atmet tief aus und sagt: »Boah, bin ich durch.«
Am Steuer sitzt eine Frau in dunklem Anzug. »Harte Woche?«, fragt sie. »Japp«, sagt er. Auf seinem Schoß liegen zwei Aktenmappen. Einen Mantel hat der Fahrgast nicht dabei, auch keinen Regenschirm. Nichts, was auf ein Leben jenseits geschlossener Räume deuten würde.
Die Limousine verlässt den Innenhof, die Fassade des Reichstagsgebäudes zieht vorbei. Andreas Rimkus, 57 Jahre alt, SPD, will zum Flughafen und von dort aus nach Hause, nach Düsseldorf. Er ist einer von 709 Abgeordneten, genauer gesagt: Er ist die Nummer 709. Denn Rimkus kam bei der vergangenen Bundestagswahl als letzter Nachnominierter ins Parlament, als Hinterbänkler aller Hinterbänkler. Wenn in Deutschland beklagt wird, der Bundestag sei zu groß und müsse verkleinert werden, dann geht es ganz konkret um Leute wie Rimkus. Einen Mann, der sich freitags um 14 Uhr in eine Limousine fallen lässt und damit ein Klischee zu bestätigen scheint.
Doch alles ist anders, wenn man Rimkus’ Arbeitswoche vom Anfang her erzählt. Dann wird ein Mensch sichtbar, der Politik im besten Sinne betreibt.
Sechs Tage zuvor, ein Sonntagabend im Februar. Aus allen Teilen der Republik reisen Abgeordnete an und beziehen ihre Berliner Wohnungen. Rimkus, mit dem Zug gekommen, fährt vom Hauptbahnhof nach Moabit. Alter Arbeiterbezirk, »super Leute, alles, was Rang und Schulden hat – wie bei mir zu Hause«, sagt Rimkus, verschwindet in einem hässlichen Kasten an der Turmstraße, zweiter Stock, 55 Quadratmeter zur Miete. Licht an; das braune Wasser aus den alten Rohren laufen lassen; gucken, was noch im Kühlschrank ist; kochen. Spät am Abend postet Rimkus auf Instagram ein Foto: Bauernomelett, Sauerfleisch, Fläschchen Pils. Darunter der Satz: »Die Sitzungswoche kann kommen …«
Rimkus hatte sich nicht gewehrt gegen die Idee, ihn durch eine Sitzungswoche zu begleiten. Gar nicht erst abstreiten wollte er, dass er tatsächlich Deutschlands Abgeordneter mit dem allerletzten Mandat im Bundestag ist. Rimkus sitzt seit 2013 im Parlament, obwohl er seinen Wahlkreis »Düsseldorf II« nie gewinnen konnte — jedes Mal rettete ihn das komplexe Konstrukt aus Mehr- heits- und Verhältniswahlrecht. Am Abend der vergangenen Bundestagswahl lief es so: Als die Stimmen ausgezählt waren, saß Rimkus im Clubhaus seines Schützenvereins und dachte, er sei raus. Weil aber die Union überproportional viele Wahlkreise gewonnen und daher 43 Überhangmandate erzielt hatte, bildete der Bundestag das Verhältnis der Zweitstimmen nicht mehr ab — es musste durch Ausgleichsmandate wiederhergestellt werden. Die meisten standen der SPD zu, 19. Der größte Teil davon ging nach Nordrhein-Westfalen. Der Bundeswahlleiter rechnete die Nacht durch. Am nächsten Morgen stand fest: Der Letzte, der es über die Landesliste geschafft hatte, war Rimkus. Verheiratet, zwei Kinder, Elektriker, Katholik, Karnevalist. Auf den ersten Blick nur ein weiterer Mann im Bundestag, weiß und westdeutsch.
Als Rimkus am Montag im Büro eintrifft, macht die Meldung die Runde, Annegret Kramp Karrenbauer werde den CDU-Vorsitz aufgeben. Das »politische Berlin«, von dem oft die Rede ist, müsste eigentlich bis in den letzten Winkel vibrieren, nicht nur in der Unionsfraktion, sondern auch beim Koalitionspartner. Aber in Raum 4.14 des Bürogebäudes in der Wilhelmstraße 65 sagt Rimkus nur: »Komisch. Was ist da vorne los?«
Von »vorne« spricht am ehesten, wer einmal hinten war. Rimkus stellt seine Biografie nicht aus, obwohl sie sozialdemokratisch schimmert; auf Nachfrage wird er sie in den folgenden Tagen preisgeben, zwischen Tür und Angel. Geboren am 24. Dezember 1962, aufgewachsen in Düsseldorf Oberbilk, einem Arbeiterviertel wie Berlin-Moabit. Mutter Hausfrau, Vater Stahlbetonbauer. Eine winzige Wohnung, »Klo auf halber Treppe«. Samstags badet die Mutter den Sohn in einer Zinkwanne, dann schickt sie ihn in eine Kneipe namens Groschen, »den Vater auslösen, bevor der den Wochenlohn versäuft«. Aber der Alte steckt dem Kind ein paar Münzen zu und schiebt es zum Daddelautomaten.
»Heute würde man uns einen bildungsfernen Haushalt nennen«, sagt Rimkus. Er schafft es auf die Realschule. Nachmittage bei den Pfadfindern St. Georg, Zeltlager in Schweden — plötzlich weitet sich die Welt. Rimkus werden Jugendgruppen anvertraut, »da hab ich das erste Mal gemerkt, dass ich was bewegen kann«. Nach der Schule beginnt er eine Lehre bei den Stadtwerken. Die studierten Kollegen dort tragen weiße Kittel, Rimkus eine grüne Latzhose. In Trafohäuschen kratzt er tote Ratten von Verteilerkästen, macht seinen Meister, findet sich in der Gewerkschaft wieder, im Betriebsrat, in der SPD.
Entgegen aller Wahrscheinlichkeit hat es Rimkus in den Bundestag geschafft. Dort ist er einer der wenigen Handwerker. 80 Prozent der Abgeordneten haben einen Hochschulabschluss, in der Gesamtbevölkerung sind es keine 20.
»Manchmal«, wird Rimkus eines Abends sagen, »geb ich Kollegen Einkaufsberatungen für Bohrmaschinen.«
Aber noch ist ja Montag, die Sitzungswoche hat eben erst begonnen, seine Büroleiterin hat ihm vier Mappen auf den Schreibtisch gelegt: Einladungen — Post — Unterschriften — Montag. Es stehen an: Fraktions- und Ausschusssitzungen, Podien, Förderbescheid-Übergaben, »parlamentarische Frühstücke«. Der Bundestag, das ist nicht nur der fernsehvertraute Plenarsaal mit den blauen Stühlen, das sind zahllose Ausschüsse und Unterausschüsse, inhaltlich zugeschnitten wie die Ministerien. Da beraten die Abgeordneten Initiativen der Regierung und formulieren selbst welche, hören Sachverständige und schleifen an Gesetzen, bevor im Plenum bloß noch abgestimmt wird.
Rimkus, der Elektriker, vertritt seine Partei im Ausschuss für Wirtschaft und Energie. In seiner Fraktion ist er Berichterstatter für die Themen Elektromobilität, Nationale Kraftstoffstrategie, Alternative Antriebe, Sektorkopplung, Telematik/ Verkehrslenkung, Automatisiertes Fahren, Woh- nungsbau/Genossenschaften und Kommunalwirtschaft. Die muss er im Blick behalten. Das sind die Felder, auf denen er seine 151 Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion berät. Dass von Rimkus’ Verantwortungsbereich selten in Zeitungen zu lesen ist, heißt nicht, dass dieser unwichtig wäre. Erst recht nicht angesichts des Klimawandels. Er ist nur kompliziert und kleinteilig.
Wie zum Beweis stürmt am Montagmittag Rimkus’ wissenschaftlicher Mitarbeiter herbei, einen Stapel Papier unter dem Arm. Das Bundeswirtschaftsministerium hat ein »Gebäude-Elektro- mobilitätsinfrastruktur-Gesetz« entworfen, Rim-kus wird es fortan nur GEIG nennen. Ist ja nicht ewig Zeit.
Im GEIG geht es — grob gesagt — um die Frage: Wie kommen Käufer eines Elektroautos an Strom, wenn sie zur Miete wohnen und nicht Besitzer eines Einfamilienhauses sind?
Rimkus blättert durch den Entwurf. Seitenweise Anwendungsbereiche und Begriffsbestimmungen, dann:
§6: Wer ein Wohngebäude errichtet, das über mehr als zehn Stellplätze innerhalb des Gebäudes verfügt oder über mehr als zehn an das Gebäude angrenzende Stellplätze verfügt, hat dafür zu sorgen, dass jeder Stellplatz mit der Leitungsinfrastruktur für die Elektromobilität ausgestattet ist.
Auf den ersten Blick gut. Allerdings sei das Wirtschaftsministerium ein »schwarzes Haus«, sagt Rimkus, CDU-geführt. »Muss ich mir genauer angucken.«
Hat er Angst, sich etwas von der politischen Konkurrenz oder von Lobbyisten unterjubeln zu lassen? Er lege sich solche Texte oft ans Bett, sagt Rimkus, für die Nächte, wenn die Gedanken kreisen. Gern auf dem Tablet, ausgedruckt wäre das zu viel Papier, »da ist der Otto-Katalog ein Scheiß gegen«.
Also nimmt Rimkus am Abend das GEIG mit in seine Wohnung, gegen zehn Uhr abends, nach einem Termin mit der nordrhein-westfälischen DGB- Vorsitzenden. Er liest und schreibt Mails bis nach Mitternacht.
Zum Essen ist er tagsüber nicht gekommen. Auch das ist eine seiner Erkenntnisse über den Bundestag: »Irgendwann rennste jedem Keks hinterher.« Und brätst abends ein Omelett.
Der Dienstag: Im Paul-Löbe-Haus gegenüber vom Kanzleramt tagt von acht Uhr an die Arbeitsgruppe Wirtschaft und Energie der SPD. Kaffee, Wasser, wieder Kekse. In Sachen GEIG ist Rimkus nach nächtlichem Grübeln der Ansicht, dass ein Gesetz nur für Häuser mit »mehr als zehn Stellplätzen« zu wenigen Leuten nutze.
»In den meisten Mietshäusern, die ich kenne, wohnen vier, sechs oder acht Parteien«, sagt er. »Und da soll sich nichts ändern?« Er will noch mal ran an Paragraf 6.
Der Tag rast, Rimkus eilt von Raum zu Raum, von Besprechung zu Besprechung, wird von Diplomaten des Auswärtigen Amtes für eine Delegationsreise nach Indien gebrieft. Es geht um Solarenergie zwischen Delhi und Mumbai und, wichtig, um die Kleiderordnung: »Schlips oder nicht Schlips?« Rimkus hasst Krawatten.
Nachmittags Fraktionssitzung im Reichstagsgebäude. Alle Parteien kommen dienstags zusammen, bevor mittwochs im Plenum die Debatten beginnen. Letzte Chance, Strategien zu besprechen, Redner festzulegen, Finten zu planen. Die Fraktionssäle der Parteien liegen im dritten Stock, direkt unter der Kuppel. Auf der weiten Fläche zwischen den Sälen herrscht ein Kommen und Gehen, nirgends sonst im Regierungsviertel ist das Spitzenpersonal der Republik so greifbar. Reporter lungern vor Flügeltüren herum. Kommentatoren straffen sich, sobald sie auf Sendung sind. An diesem Dienstag stehen die meisten Kameras und Scheinwerfer in der CDU-Ecke. Je heller das Licht, desto größer die Krise. Rimkus läuft durch das Gewusel, als sei er unsichtbar.
Der Mittwoch: Erst tagt der Ausschuss für Wirtschaft und Energie, berät allerdings nicht über das GEIG, sondern noch über ein »Gesetz zur amtlichen geologischen Landesaufnahme sowie zur Übermittlung, Sicherung, öffentlichen Bereitstellung und Zurverfügungstellung geologischer Daten (GeolDG)«. Der Sprache der Beteiligten ist Routine anzuhören, Wörter haben sich abgeschliffen, aus Regierung ist »Gierung« geworden, aus Gesprächsbedarf »Sprächsbedarf«.
Anschließend Thainudeln in der Kantine, dann fährt Rimkus zur niederländischen Botschaft, um mit Vertretern von Autoherstellern, Energiekonzernen, Banken und Umweltverbänden aus halb Europa über »die nationale Wasserstoffstrategie der Bundesregierung« zu sprechen. Rimkus ist Wasserstoff-Fan, er kann stundenlang über »Brennstoffzellen« und »Druckgasspeicherung« reden, bloß ist auf der Veranstaltung erst ein Herr Benterbusch dran, dann ein zweiter Redner, der den ersten schon versehentlich Bunterbeck nennt, dann noch einer. Am Ende bleiben Rimkus ein paar Minuten, um seine »Bullet-Points Wasserstoff« ins ermattete Publikum zu donnern.
Es ist 18 Uhr am Mittwoch dieser Woche, als Rimkus endlich den Plenarsaal des Bundestages betritt. Das Stuhlrund ist fast leer, die Regierungsbank auch. Rimkus setzt sich in die fünfte Reihe. Er hat an diesem Abend — wie stets ein Drittel aller SPD-Abgeordneten — »Präsenzpflicht«. Ein weiteres Drittel hat zur selben Zeit »Rufbereitschaft«, muss den Saal innerhalb von 15 Minuten erreichen können. Die Partei will nicht von plötzlichen Abstimmungen überrascht werden.
Und das Parlament soll halbwegs voll aussehen. Aber es ist eine irreführende Fülle. Die meisten Zuhörer blättern durch Akten oder tippen auf ihren Handys. Nach drei Tagen mit Rimkus ahnt man immerhin, dass sie nicht Candy Crush spielen.
Der Donnerstag: Von acht Uhr an erklären Professoren des Fraunhofer-Instituts dem Abgeordneten Rimkus und Kollegen, wieso sie vor allem Fotovoltaik für geeignet halten, um die Energiewende umzusetzen. Um neun Uhr dann ist der stellvertretende Generaldirektor für Energie der EU-Kommission aus Brüssel zu Gast und lobpreist den Wasserstoff.
Rimkus hat inzwischen eine Idee für Paragraf 6 des GEIG. Statt von »Wohnhäusern mit mehr als zehn Stellplätzen« sollte von »Mehrfamilienhäusern« die Rede sein. Hätte jeder was von. Würde aber teurer. Als Kompromiss, findet Rimkus, könnte man im Gesetz statt »Ladeinfrastruktur« nur »Leerverrohrung« vorschlagen. »Kabel durchschieben kann man ja noch bei Bedarf«, sagt er.
Mit einer Initiative für die Leerverrohrung von Parkplätzen vor Mehrfamilienhäusern schafft man es natürlich nicht zu Anne Will. Rimkus war bislang auch noch nie in der Tagesschau zu sehen. Zwar hat er in dieser Legislaturperiode acht Reden gehalten — aber eben zum Energiesparrecht, zur Handwerksordnung und zur Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften.
Wer sich einmal einlässt auf die vermeintlichen Nebensächlichkeiten, mit denen sich ein Hinterbänkler wie Rimkus befasst, der ahnt: Vieles davon hat mehr Einfluss auf das Leben der Bürger als ein TV-Auftritt. Talkshow-Statements verhallen, ein Stromanschluss bleibt. Sicherlich braucht ein Parlament eloquentes Personal, das Aufmerksamkeit schafft, Wähler mobilisiert, Politik erklärt, aber eben auch eine Belegschaft, die diese Politik im Detail macht. Leute im Trafohäuschen.
Es muss deshalb kein Zeichen von Verschwendung sein, wenn ein Abgeordneter an einer vermeintlichen Kleinigkeit herumfriemelt. Zumal mehr Themenfelder hinzugekommen als weggefallen sind, seit der Bundestag erstmals zusammentrat. Im Jahr 1949 war Familienpolitik tatsächlich noch Gedöns; 1957 musste sich niemand Gedanken über Digitalisierung machen; 1972 bestand kein Handlungsbedarf in Sachen Haftung beim autonomen Fahren.
Im Jahr 2015 allerdings, als geklärt werden sollte, welche Autos sauber genug sind, um von einem Fahrverbot ausgenommen zu werden, hat Rimkus über der Frage gegrübelt, ab wie vielen Kilometern Batteriefahrleistung man von einem Hybrid reden kann.
Die Antwort findet sich im Gesetz zur Bevorrechtigung der Verwendung elektrisch betriebener Fahrzeuge (EmoG), Paragraf 3, Absatz 2. »Was für Feinschmecker«, sagt er.
Und dann kommt der Freitag und mit ihm eine schlechte Nachricht aus Düsseldorf. Ein Rohrwerk wird dichtgemacht. Es geht um 300 Arbeiter. Rimkus ist sauer, er hängt in Berlin fest, Büro 4.14, und brüllt so laut ins Telefon, dass sein Zorn bis in den Flur zu hören ist: »Moment! Moooment! … Wer? Wann? … Kümmern!«
Er hat in dieser Woche 601 Mails und 109 Briefe erhalten. In seinem Kalender haben sich die Termine überschnitten wie schlecht verlegte Kacheln. Da reicht wenig, um alles durcheinanderzubringen. Und ein Rohrwerk ist mehr als wenig.
Man kennt Rimkus nach fünf Tagen gut genug, um sagen zu können: Er weiß, wie es ist, auf brüchigem Boden zu stehen. Er hat ein anderes Leben im Rücken als die meisten, die im Parlament vor ihm sitzen.
Nimmt man Rimkus zum Maßstab, wird der Bundestag in seinen hinteren Reihen nicht öder, sondern diverser. Wer das Parlament verkleinern will, sollte deshalb nicht einfach von hinten wegkürzen. Nicht da, wo von vorne betrachtet »hinten« ist. Sonst würde der Bundestag am Ende wirklich so alltagsfern werden, wie Kritiker glauben, dass er es heute schon ist.
Wenn Rimkus Besuch von Schulklassen aus der Heimat bekommt, kann er ihnen nichts von einer Harvard-Biografie erzählen. Ist ihm egal, lieber als Gymnasiasten lädt er Haupt-, Real- und Berufsschüler ein. »Weil ich eine Ahnung habe, was mit einem 15-jährigen Mohammed passiert, der sonst nie einen Abgeordneten treffen würde, aber jetzt vielleicht denkt: Politik ist ja geil! Das ist die wichtigste Aufgabe, die ich habe: Menschen Bock auf Demokratie machen.«
Darum war sein wichtigster Termin der Woche einer, der ganz klein im Kalender stand, am Montag schon. Über ein Parlamentarisches Patenschafts-Programm darf Rimkus einen Jugendlichen für ein Jahr in die USA schicken. Als er die Bewerbungen durchsah, fiel ihm eine Realschülerin auf, 16 Jahre alt. In ihrem Schreiben hatte sie die Felder mit Informationen zum Vater freigelassen. Wie viele Kinder alleinerziehender Mütter schaffen es nach Amerika? Es brauchte mehrere Versuche, um das Mädchen zu erreichen. Endlich hob sie ab, Rimkus stellte sich vor und sagte: »Ich mach’s kurz. Ich würde dich gern in die USA schicken.« Und noch einmal weitete sich für einen jungen Menschen die Welt.
Am anderen Ende der Leitung Stille. »Nicht weinen«, sagte Rimkus.
»…«
»Hoffentlich sind das Freudentränen!«
Da übernahm die Mutter das Telefon und hörte nicht auf zu reden. Als wäre das Wunder vorbei, wenn sie auflegte.
Am Freitag, 14 Uhr, in der Wilhelmstraße 65 steht Rimkus im Aufzug und sagt: »Jetzt brennt in Düsseldorf der Baum. Kacke, ey!« Das Rohrwerk.
Im Erdgeschoss öffnet sich die Fahrstuhltür, Rimkus wünscht den Pförtnern ein »schönet Wochenende« und sagt in der schwarzen Limousine: »Boah, bin ich durch.«
Kurz lässt er sich zu seiner Wohnung fahren, gießt Kloreiniger in die Toilettenschüssel. In einer kleinen Wäscherei, geführt von einer Spätaussiedlerin, gibt er seine Hemden ab. Dann weiter nach Tegel, Flug EW 9043 Richtung Düsseldorf.
Die Woche ist um. Bei Hart aber fair, Maischberger und maybrit illner haben die Fernsehparlamente getagt. Rimkus hat seinen Job gemacht.